Lust auf mehr?!
Youthpaper Nr. 45, Februar 2000

Einen Versuch wert?!

von Martin/YPR

Da kam der Teufel zu ihm und sagte: „Wenn du Gottes Sohn bist, dann befiehl doch, daß diese Steine zu Brot werden!“
 

Die Versuchung Jesu, von der die Heilige Schrift berichtet, ist wohl die radikalste Form der Infragestellung Gottes und der Religion, und alle mühevoll langatmigen Abhandlungen der Atheisten von Lukrez bis Sartre, von Marx bis Mao haben nicht im entferntesten jene Erschütterung des Glaubens zu bewirken vermocht, wie sie hier Satan mit wenigen Worten erreicht. Und daher bedeutet „Versuchung“ auch viel mehr, als einige neuere Übersetzungen der Heiligen Schrift glauben machen wollen, wenn sie Versuchung Jesu übersetzen mit „Jesus wird auf die Probe gestellt“.

Zwar mag es richtig sein, daß die Kulturgeschichte des Abendlandes dem Wort Versuchung manches beigemengt hat, was dann ganz übermächtig und schließlich sinnentstellend wirkte. Es mag richtig sein, daß wir das Wort Versuchung heute eher in Verbindung bringen mit dem Blutandrang shakespearscher Helden - die Wahrheit bleibt doch, daß Versuchung nach der Heiligen Schrift nicht irgendwas an mir meint, sondern die Grundfesten meiner selbst, daß Versuchung nicht auf den Hormonspiegel zielt, sondern auf das Mark, daß sich Versuchung nicht ereignet auf dem Volksfest, sondern in der Wüste. Die Wüste sagt man, ist ein Ort der Wahrheit.

In ihrer Lebensfeindlichkeit zwingt sie zur äußersten Anstrengung des Überlebens. Keinerlei äußerer Überfluß, keinerlei bloße Dekoration können hier bestehen. Mit ihrer trockenen Hitze schält sie den Lebewesen alles nicht Nötige vom Leib, bis nur das Wesentliche, das zum Leben Unerläßliche verbleibt. Die Wüste, sagen die Araber, ist der Garten, in dem Gott spazierengeht. In ihr gilt nur, was wirklich stimmt. Sie ist der Ort der letzten Fragen.

Da kam der Teufel zu ihm und sagte: Wenn du Gottes Sohn bist, dann befiehl doch, daß diese Steine zu Brot werden!

Den meisten Auslegern zufolge geht’s bei der Versuchung Jesu hier um einen Machterweis des Herrn. Sie sagen: mit der listigen Einleitung „wenn du Gottes Sohn bist“ wolle der Teufel Christus provozieren, seine Wunderkraft unter Beweis zu stellen. Aber eine solche Einstellung wäre bestimmt zu äußerlich und viel zu sehr im Vordergründigen. Wie aber, wenn wir annehmen müssen, daß es im Leben Jesu wirklich einmal diesen Augenblick gegeben hat, daß er beinahe dachte, in dieser Welt könne von Gott nur in der Sprache des Brotes die Rede sein? Kann man die Antwort der Religion glauben, angesichts der Bannmeile des Elends? Hält der Glaube stand beim Anblick der Bettelarmut und der Existenznot in den Vororten von Kalcutta und Bombay? Im Angesicht der Notschreie und Rufe der Verdurstenden und Verhungernden in Kambodscha ? Wie, wenn Christus selbst beinahe so weit gewesen wäre zu glauben, dass das Mitleid mit der Not des Menschen sich darin äußern müsse, ihren Hunger zu stillen ?

Es ist die wohl tiefste Versuchung des menschlichen Mitleids, den Menschen nur noch so zu sehen, als eine bedürftige, geschundene, hilflose Kreatur, die nichts als essen will und Ruhe finden und sich zurücklehnen möchte, in den animalischen Frieden des Körpers, der trotz so vieler Plagen dennoch nicht erreicht wird. Es ist eine Versuchung, die jeden überkommen muß, der über die Not der Menschen nachdenkt.

Und doch ist es eine teuflische Versuchung, so zu denken. Denn es ist teuflisch, die Wertlosigkeit des Staubes, die bloße Kraft der Erde für etwas auszugeben, das den Menschen wirklich sättigen könnte. Denn der Hunger nach Brot ist nur für wenige Stunden zu beruhigen und er erwacht mit periodischer Gesetzmäßigkeit, und der Friede des Menschen liegt nicht darin, die Bedürftigkeit seines Lebens für Stunden zu verschließen; denn das Geheimnis seines Lebens ist, daß er, wenn er gegessen und geschlafen hat, erst recht fragen wird: was nun? Gemessen an der menschlichen Sehnsucht ist alles, was die Erde bietet, nur Stein, der niemals sättigt; und es wäre teuflisch, die Steine für Brot zu erklären, das ewig Unbefriedigende, Äußerliche und Vordergründige für das Befriedigende, Letzte, Endgültige auszugeben; es wäre eine teuflische Lüge, den Menschen die Produkte der Erde als das Eigentliche zu verkaufen, die Steine als etwas, wovon sie leben könnten.

Aber es ist, wie wenn Jesus in diesem Augenblick selber unter dem Eindruck des ganzen Ausmaßes irdischer Bedürftigkeit, unter der Wucht des leiblichen Hungers von sich selbst aus keine Antwort mehr zu geben wüßte; wie wenn er sich selbst soweit in Frage gestellt sähe, was sein Ziel und was sein Weg sein soll, daß er sich nur noch wie von außen sagen lassen kann, was richtig ist: mit einem Schriftwort, mit dem, was er immer gewollt hat und was er sich jetzt ganz fest aus der Erinnerung heraus sagen lassen muß: das Wort aus dem 5. Buch Moses, 8. Kapitel, Vers 2 - 3: Erinnere dich des Weges, den dich der Herr, dein Gott geführt hat, an die 40 Jahre in der Wüste, um dich zu beugen und dich zu prüfen, um zu erfahren, was in deinem Herzen ist, ob du die Gebote hältst oder nicht. Und er hat dich in Not geraten und dich hungern lassen und dir als Speise das Manna gegeben, das du selbst nicht kanntest und das deine Väter nicht kannten, um dich wissen zu lassen, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern daß der Mensch lebt von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt.

Das war es, was Christus wollte, und dazu kann er sich nun bekennen, stärker, deutlicher, gültiger als vorher. Dass die Versuchung auch ihr Gutes hat, die Krise eine Klärung mit sich bringt, das muß es sein, diese Befreiung, dieses Erwachen einer inneren Freiheit, daß Lukas schreiben kann, der Geist Gottes selber habe Christus in die Wüste geführt. Daß man am Ende dankbar sein kann, daß es diesen Augenblick des Schwankens gab; er zeigt uns sicherer, daß Gott uns trägt; daß es den Augenblick äußerster Not gab; er ließ uns von innen spüren, daß Gott allein unser Leben ausmacht, dass uns der Augenblick des Hungers nicht erspart blieb; er lehrte uns, die Dinge wiederzuentdecken und sie in ihrer Begrenztheit und Armseligkeit zu lieben. Daß Gott allein dem Menschen alles ist: das, was ihm Frieden gibt und seinen Hunger stillt, und was sein Leben träg und seinen Schmerz beruhigt.