Lust auf mehr?!
Youthpaper Nr. 16, April 1995

Der Kaptain

von Carsten/YPR

Die ersten Sonnenstrahlen blitzten über dem endlosen Wasser auf, als es auf der Frenzy gerade 7 Uhr geworden war. Ich stand auf dem Deck und beobachtete dieses wunderschöne Schauspiel. Meiner Meinung nach war es immer noch das Schönste, was es auf diesem Schiff zu sehen gab. Doch kaum einer teilte diese Ansicht.
Die See war ruhig, und wenn ich nicht ein Passagier dieses Schiffes gewesen wäre, hätte sich diese Ruhe und Ausgeglichenheit wohl auch auf mein Gemüt übertragen. Aber ich wußte, daß dieser Tag etwas Unheilvolles mit sich bringt. Die Wenigsten würden damit rechnen, obwohl sie alle über das Leck im Maschinenraum informiert waren.
Sie lebten ihr Leben weiter als wäre nichts geschehen, während die ersten Leichen aus dem Rumpf geborgen wurden. Man hatte bereits einen Großteil der Räume in den untersten Stockwerken an das kalte Naß der See verloren, und viele waren gestorben von denen keiner wußte, wer sie gewesen waren.
Die Sonne war nun völlig aufgegangen, doch ihre Wärme schützte mich nicht vor der Gänsehaut, die durch die Erinnerungen an die Geschehnisse der letzten Tage auf meiner Haut zu spüren war. Die Gleichgültigkeit der Menschen war es, die mir Angst machte.
Das Schiff lag nun schon so tief im Wasser, das man aus den obersten Bullaugen bei kleinen Wellen die Fische beobachten konnte.

Der Kapitän hatte diesen Tag kommen sehen, aber kaum einer hatte ihm geglaubt. Keiner von uns kannte ihn persönlich, denn er war lange vor unserer Geburt gestorben, so daß auch unsere Eltern nur von ihm gehört hatten. Dennoch hatte es ihn gegeben, auch wenn viele das anzweifelten. Seit seinem Tod hat es auf der Frenzy nie wieder einen Kapitän gegeben, die Verantwortung für das Schiff und das Kommando teilten sich seither die Mannschaft.
Darauf war es auch zurückzuführen, daß wir so lange kein Land mehr gesehen hatten, denn ihre Meinungen über den Kurs des Schiffes unterschieden sich sehr voneinander. Es hatte im Laufe der Jahre viel Blutvergießen deswegen gegeben, doch das störte die meisten Passagiere wenig. Solange sie mit dem, was sie hatten zufrieden waren, war es ihnen relativ egal, wohin sie fuhren. Außerdem kannte niemand das Land, weil sie alle auf See geboren waren, so daß die meisten den Glauben daran aufgegeben hatten.

Die Sonne war inzwischen so hell am Himmel, daß ich nicht mehr in ihr Licht sehen konnte. Ich dachte daran, was der Kapitän über diesen Tag gesagt hatte. über den Tag, an dem wir die Rettungsboote benutzen sollten. Er selbst hatte am Tag der Abreise dafür gesorgt, daß für jeden einzelnen Passagier ein Platz in einem der Rettungsboote, die wie ein Schutzschild rings um das Schiff hingen, vorhanden war. Er hatte ausdrücklich darauf bestanden im Falle des Sinkens der Frenzy, nur diese Boote zu benutzen, egal, was passiert. Kaum einer erinnerte sich an diese Worte, obwohl sie in jeder Kajüte aufgeschrieben hinterlegt waren. Doch wer informierte sich schon über das Verhalten im Notfall, wenn keine Gefahr im Anzug zu sein schien.

Die Meldung, daß ein weiteres Stockwerk geflutet war, wurde gerade auf Deck bekanntgegeben. Der Wasserspiegel hatte bald die Reling erreicht. Langsam wurde allen klar, daß sie dieses Schiff verlassen mußten. Doch nur wenige begaben sich auf die Rettungsboote, denn kaum einer wußte, wozu sie da waren, obwohl sie so offensichtlich vor ihren Augen hingen.
Die Mannschaft, auf die fast alle Passagiere vertrauten, verbreitete in ihrer Zerstrittenheit unterschiedliche Verhaltensmaßnahmen, aber die Rettungsboote erwähnte keiner von ihnen.
Etwa eine halbe Stunde später geschah dann etwas, was nie zuvor geschehen war. Die gesamte Mannschaft meldete einstimmig eine Nachricht. Die Nachricht, daß Land in der Nähe sei.
Freudenschreie überströmten das Schiff, und genau in diesem Moment begann das erste Wasser auf Deck zu strömen. Es war nun Zeit für mich, in eins der Boote zu steigen.
Viele rannten an Deck und sprangen freudig ins Wasser, um an Land zu schwimmen. Die Mannschaft verkaufte Schwimmwesten, Luftmatratzen und Schlauchboote an Deck. Kaum einer machte sich die Mühe, die Rettungsboote loszumachen, es wußten auch die wenigsten wie sie das hätten tun sollten. Ich war über diese Tatsache so erschrocken, daß ich umherrannte und jeden, den ich traf, davon zu überzeugen versuchte, in eins der Boote zu steigen.
Die meisten lachten mich aus, viele meinten, dazu sei jetzt keine Zeit mehr und nur wenige nahmen meinen Rat noch dankbar an.

Die Sonne sank, als mir erst richtig bewußt wurde, was geschehen war. Die Frenzy lag auf dem Meeresgrund. Sieben Boote blieben übrig, sieben von hunderten, die nicht losgemacht wurden, und jetzt mit dem Schiff auf dem Grund lagen, nutzlos.
Die Schlauchboote und Luftmatratzen waren von dem Sog mit in die Tiefe gezogen worden, genau wie die meisten Schwimmer. Niemand hatte mit so einem Sog gerechnet, auch wir nicht. Dennoch hatten sich unsere Boote über Wasser gehalten. Den Grund dafür sollten wir erst später erfahren.
Keiner ahnte in diesem Moment, was passieren würde, aber wir alle hatten etwas, voran wir festhielten und was uns Hoffnung gab:
Das Wissen, auf den Kapitän vertraut und somit das Richtige getan zu haben.
Wenig später wurden wir gerettet und an Land gebracht.