BEYOND
von Norman/YPR
Von wegen Jahrtausendwechsel, wir leben erst im Jahre 1702. 297 Jahre in unserer Zeitrechnung sind erfunden. Das behauptet jedenfalls Heribert Illig, Privatgelehrter aus Gräfelfing bei München. Er meint, daß der Zeitraum zwischen dem 7. und dem 10. Jahrhundert, den wir gern als finsteres Mittelalter bezeichnen, noch viel dunkler ist, als selbst die Fachleute zugeben. Fast keine archäologischen Spuren seien vorhanden, nur jede Menge Urkunden - und die ließen sich leicht fälschen. Was auch vielfach getan wurde, so daß selbst Historiker von einem Zeitalter der Fälschungen sprechen.
Seit zehn Jahren läßt Illig seine These nicht mehr los. Astronomie, Archäologie, Literaturwissenschaft und Architektur - überall durchstöberte er die Sekundärliteratur nach Spuren auf ungelöste Rätsel des frühen Mittelalters. Während ihn die Historiker als Spinner abtaten, wurde ein großer Verlag auf seine Thesen und ihren verkaufssteigernden Skandalwert aufmerksam. Econ - der auch die Bücher des ebenfalls umstrittenen Erich von Däniken (Stichwort: Ufos) erfolgreich vermarktet - veröffentlichte 1996 Illigs Buch Das erfundene Mittelalter. Es verkaufte sich so gut, daß zwei Jahre später eine Taschenbuchausgabe folgte. In seinem 450 Seiten-Werk bemüht sich Illig, den Frankenkaiser Karl den Großen (768-814) ins Reich der Legenden zu verfrachten.
Nach Illig werden in der abendländischen Geschichte zwischen 256 und 384 Jahre zu viel geführt. Gemäß seinen Forschungen sind die Jahre 614 bis 911 fiktiv. In dieser Zeitspanne lebte auch Karl der Große, der illigscher Meinung nach aber nie existiert hat. Und das, obwohl sein Leben eine Ausnahme im frühen Mittelalter außerordentlich gut belegt ist. Für Illig aber zu gut belegt: All das, was er geleistet haben soll, ist in einem Menschenleben nicht zu bewältigen. Hinzu kommt, daß er für sein Karolingisches Reich unglaublich viele Kriege führen mußte. Doch dafür besaß das Land gar nicht die materielle Basis. Trotzdem konnte Karl seinem Reich noch ganz nebenbei eine heftige Blüte des Kulturellen Lebens bescheren. Illig argumentiert weiter: Da ist in einer Urkunde zum Beispiel die Rede davon, daß Karl der Große eine Kirche einweihte. Die Urkunde ist da, nur von der Kirche gibt es keinen einzigen Stein mehr. Wenn das Einzelfälle währen, würde niemand ein Wort darüber verlieren, aber ich fand hunderte ähnliche Diskrepanzen. Illig vertritt die These, daß die Geschichtsfälschung die gesamte Alte Welt betraf, von Island bis Indonesien. Bei den Drahtziehern dieser Verschwörung ist er sich allerdings unsicher. Konstantin der VII. von Byzanz, der deutsche König Otto der III. und Papst Sylvester der II. sie alle hatten nach Illig aus unterschiedlichen Gründen Interesse daran, an der Uhr zu drehen und die Geschichte zu frisieren.
Das große öffentliche Interesse hat nun dazu geführt, daß sich die Fachwelt mit Illigs Thesen auseinandersetzt. Die Historiker sehen in Illig einen unwissenschaftlichen Provokateur. Er weicht derartig weit von jeder wissenschaftlichen Methodik ab, daß Fachleute sofort seine Fehler sehen, sagt Franz-Reiner Erkens, Professor für mittelalterliche Geschichte an der Uni Leipzig. Professor Michael Borgolte von der Humboldt-Uni Berlin geht sogar noch weiter: Illigs Thesen sind in wissenschaftlicher Hinsicht unhaltbar. Und das ist ein Konsens unter meinen Fachkollegen.
Im Juni 99 ist nun auch noch Illigs zweites Buch mit dem Titel Wer hat an der Uhr gedreht? erschienen. Darin geht er sogar noch weiter als bisher und will nicht nur einige Jahrhunderte der europäischen Geschichte ausradieren, sondern gleich eine ganze Epoche der damaligen Welt von Skandinavien bis nach China.
Mit der wachsenden Popularität von Illigs Thesen wird der Markt aber auch für andere Fälschungsexperten attraktiv. Fast zeitgleich mit Illigs Buch erschien auch das Buch Erfundene Geschichte von Uwe Topper, bei dem nicht nur der Titel Ähnlichkeit mit Illigs Werk hat. Auch inhaltlich ist man auf einer Linie. Kein Wunder, denn früher zählte Topper noch zu Illigs Mitarbeitern. Heribert Illig nennt seinen ehemaligen Mitarbeiter einen Trittbrettfahrer, der sich nur des Geldes wegen an seine Seite gestellt habe. Topper will mit meinem Namen abstauben. Der Kampf um die gewinnträchtigen Pfründe des Mittelalters hat begonnen.
(Nach: Der Tagesspiegel, 29. Juni 1999)