Lust auf mehr?!
Youthpaper Nr. 28, Mai 1997

Mal was auf den Punkt gebracht (Nr. 28, Mai'97)

ein Leserbrief von Julia Kondring

Wenn es mir nicht so wichtig wäre, einmal das auszudrücken, was mich schon so lange in bezug auf unsere Gemeinde beschäftigt, würde ich jetzt den Stift in die Ecke schleudern und alles bisher geschriebene sorgfältig in eine Schublade legen; denn es scheitert mal wieder an den einleitenden Worten. Ich muß aber dazu bemerken, um mir selbst wieder etwas Mut zum Schreiben zu geben, daß es für mich sehr schwierig ist, meine zum Teil sehr kritisierenden und persönlichen Gedanken hier so zum Lesen freizugeben, zumal ich niemanden persönlich kritisieren oder sogar verletzen will und schon gar nicht irgendeinen Streit entfachen will.

Meine Absicht ist es einfach nur, auf etwas hinzuweisen, zum Nachdenken aufzufordern und dann vielleicht sogar zu einer Veränderung beigetragen zu haben.

Schon seit dem einschneidenden Erlebnis eines jeden Konfirmanden unserer Gemeinde, der Konfirmandenfreizeit nach Mölln habe ich ein paar kleine Problemchen mit der Gemeinschaft unserer Gemeinde. In dieser Zeit wurde mir viel erzählt von Geboten, vom Glauben, von Gott und von der christlichen Nächstenliebe.

Als wir in Mölln jeden Morgen um das Kreuz herumstanden, uns an den Händen hielten und sangen, habe ich auch etwas von der Gemeinschaft gespürt. Doch wieder zu Hause im Alltag ist genau das eingetreten, was mir schon in Mölln manchmal aufgefallen war:

Es bildeten sich die alten Grüppchen, freundlich war man nur zu Freunden, ein nettes Lächeln war manchmal drin, aber nicht immer!

Schwierig war es dazuzugehören, es war kein ausgeglichenes Geben und Nehmen, einige mußten nur geben und genommen wurde ihnen die Gemeinschaft wenn nicht sogar der Glaube ! Viele gingen, neue kamen, die Jugend "gruppierte" sich so dahin.

Bevor ich jetzt weiterschreibe, möchte ich kurz erwähnen, daß der nun folgende Teil schon vielerseits angesprochen wurde, einige es vielleicht nicht mehr hören können und wie mir beim Nachdenken klar wurde, nicht nur ein "Symptom" unserer Gemeinde ist, sondern ein generelles "Symptom" unserer heutigen Gesellschaft.

Bevor ich dann nun auf nicht allzu kleine Einzelheiten eingehe, möchte ich vorher noch einmal ganz allgemein auf das Menschenbild, wie es mir erscheint, eingehen:

ehrlich
verantwortungsbewußt
zuverlässig
vorausschauend
zielstrebig
unkompliziert
freundlich
...
verlogen
egoistisch
unzuverlässig
unüberlegt
träge
anstrengend
frech
...
so sollen wir sein,
sagen unsere Erzieher;
so wollen wir sein,
wäre es nicht so schwierig
Verantwortung zu übernehmen
ehrlich, zuverlässig und
freundlich zu sein.
so sollen wir nicht sein
sagt die Allgemeinheit;
jedoch wissen wir alle, daß man
im Leben ohne Lügen, Ego und
Unzurechnungsfähigkeit heute
nicht weit kommt

 

Um Erfolg und Gewinn
verbinden zu können, bedient
sich der Mensch neuer Eigenschaften:
ehrlich verlogen
verantwortungsbewußt egoistisch
zuverlässig unzuverlässig
freundlich frech
geradlinig unentschlossen
vorausschauend unüberlegt
unkompliziert anstrengend
zielstrebig träge
...
Der Mensch, ein Vorbild,
vielseitig und anpassungsfähig.

 

Mann kann hinschauen, wo man will, in die Politik, in die Wirtschaft oder Wissenschaft: vornherum wird Freundlichkeit und Ehrlichkeit geheuchelt und hinterm Rücken werden die miesen Geschäfte getrieben - unbemerkt und verschwiegen, nur im vertrauten Kreis bekannt.

Wie die Großen, so auch die Kleinen ?!

Sei es in Freundschaft, Familie und Beruf oder eben in der Gemeinde, die Gesellschaft ist "erkaltet", Probleme werden totgeschwiegen, denn der Mensch ist perfekt, Menschlichkeit und Gefühl wird ersetzt durch Telefon, Fax und Computer.

Da liegt die Annahme nicht fern, daß in einer christlichen Gemeinde dieser "Fortschritt" vielleicht etwas langsamer oder auch fast unbemerkt vorbeizieht, daß dort die Menschlichkeit und das Miteinander noch im Vordergrund steht. Aber leider sieht es anders aus, und zwar ziemlich zuverlässig unzuverlässig und freundlich frech und manchmal sogar ehrlich verlogen!

Mein Eindruck von meiner Konfirmandenfreizeit hat sich für mich bestätigt. Damals wußte ich jedoch noch nicht viel über die Leute, die mir ihre Erfahrungen im Leben mit Gott und somit auch in der Glaubensgemeinschaft mit anderen Gläubigen schilderten. Heute kenne ich einige dieser Leute etwas besser und weiß, was sie hinter vieler Leute Rücken im vertrauten Kreis so tun, was sicherlich kein Problem darstellt. Ich denke, jeder Jugendliche und auch die etwas älteren kennen die "Gesetzte des Inseins", wie schnell man verspottet wird und wie cool es ist, wenn man über einen anderen herziehen kann. Da kann man von keinem verlangen, sich rauszuhalten.

Lächerlich und für mich und viele andere problematisch wird es aber dann, wenn man sonntags zum Gottesdienst oder im Herbst auf der Konfirmandenfreizeit oder einfach dann, wenn man glaubt es könnte ganz gut passen, zum perfekten "Heiligen" wird.

Wäre es dort nicht angebrachter, die Kraft, die man für diese "Heiligenrolle" aufwenden muß, darein zu stecken, einmal mehr sich die abwertenden oder ausgrenzenden Worte einzusparen.

Ich will damit nicht sagen, daß man jeden mögen muß oder immer freundlich und gut gelaunt sein muß.

Wenn man jemanden nicht leiden kann, dann kann man ihm es auch zeigen oder wenn jemand etwas falsch gemacht hat, dann muß man ihm es sagen. Aber nicht, indem man ihn auf dem Kirchhof mit einem übertrieben aufgelegten Grinsen die Hand schüttelt und sich im nächsten Moment seinen Freunden zuwendet und ihn oder seine Tat verspottet oder ihn, wenn man ihm am nächsten Tag zufällig begegnet, absichtlich übersieht.

Vielleicht würde sich dann ja eine kontinuierlichere und öfter ehrlich gemeinte Freundlichkeit in unserer Gemeinde einbürgern.

Ja, dieses zweispurige Leben ist auch an unserer Gemeinde nicht vorbei gegangen, und nicht nur wir Jüngeren, sondern auch die Älteren haben damit zu kämpfen. Doch das wichtige ist, daß wir uns damit auseinander setzen, denn ich habe keine Lust, weiterhin, wenn mir jemand nach dem Gottesdienst die Hand schüttelt zum Guten-Tag-Sagen, zu überlegen, ob er mich morgen auf der Straße überhaupt ansehen wird.

J.K.